Elternabend – Das Klassenzimmer

Betritt man den Klassenraum für einen Elternabend, fühlt man sich augenblicklich in eine Zeitblase zurückversetzt. Die eigene Schulzeit, mit allen Ängsten und Verletzungen, taucht aus dem Unterbewusstsein wieder auf. Ich frage mich spätestens, wenn ich auf einem dieser Folterstühle sitze, ob ich meine Hausaufgaben gemacht habe oder ob Herr Lehrer Drögeraus meiner 85jährigen Mutter nach diesem Elternabend wohl einen blauen Brief schreiben würde.

Kindheitserinnerungen – gibt es etwas Schöneres?

Meinem Mann scheint es ähnlich zu gehen, erzählt er doch auffällig regelmäßig nach solchen Elternabenden, die Geschichte, wie er mit sechs Jahren aus der Steiermark nach Hamburg kam und so gut wie kein Hochdeutsch sprechen konnte. Was ihm nicht nur ein paar Watschen seiner Mitschüler, sondern auch die Ablehnung mancher Lehrer eingebracht hatte.

Mein Mann hatte jedoch Glück gehabt, denn in seiner Grundschule, gab es diese EINE außergewöhnliche Lehrerin, die ihn unter ihre Fittiche nahm. Immer nach der Schule nahm Frau Hansel ihn für ein paar Stunden mit nach Hause und machte mit ihm, und ihren Kindern zusammen die Hausaufgaben. So ganz nebenbei brachte sie ihm mobbingunanfälliges Hochdeutsch bei.  Nur zur Info, sie hat ganze Arbeit geleistet, der Mann ist heute als Journalist tätig, spricht und schreibt akzentfrei und könnte kein Steirisch mehr sprechen, selbst wenn sein Leben davon abhinge. Bravo Frau Hansel!

Mitbestimmung wird allgemein überschätzt

Doch zurück in unser heimeliges Klassenzimmer, das die beiden Lehrer, und das ist neu im Schulbetrieb, selbst gestalten durften. Soll bedeuten, die Möbel blieben so unbequem wie immer, aber in der Wahl des Farbschemas und der Wanddekoration hatten die Lehrer freie Hand. Ein Versuch, die Kinder einzubinden scheiterte an … ja, woran nur? Aus den Erzählungen unserer Tochter Mausi, schlossen wir, dass Drögeraus und Straightforeward wohl Schwierigkeiten damit hatten, die Transformer-Fantasien der Jungen, mit den knallpinken Barbie-Träumen der Mädchen in Einklang zu bringen. Außerdem hatten die Zwei ja selber auch noch Wünsche.

In einem Moment seltener Übereinstimmung beschlossen die zwei Pädagogen, den Raum nur nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Herausgekommen ist ein, nicht ganz altersgemäßes, wie meine Töchter es ausdrücken würden, „weirdes“ Bob-der-Baumeister-Shaun-das-Schaf-für-Erwachsene-Design. Alle Wände waren in sattem Blau getüncht, von jeder Wand strahlte ein anderer Blauton auf uns herab.

Es fährt ein Zug nach nirgendwo… (Christian Anders)

An der Rückwand hing eine aus bunter Pappe ausgeschnittene Eisenbahn und auf jeden Waggon hatten die Lehrer einen Mahnspruch geschrieben:  Rot – „Wir lassen den Lehrer aussprechen“; Gelb – „Wir bewahren unsere Ruhe“; Orange – „Wir werfen nicht mit Essen“; Grün – „Streit lohnt sich nicht“; Weiß – „Wir machen immer unsere Hausaufgaben“.

Pädagogische Zielsicherheit ist schon was wert…

Ich sah mir diesen manipulativen Brainwash-Zug an und dachte bei mir: Na klar doch, das wird unsere Kleinen schwer beeindrucken. Wenn Ihr die Bande so in den Griff bekommt, seid ihr für mich die Größten. Eigentlich, so dachte ich, fehlte zur Sicherstellung nur ein weiterer Waggon, ein Pechschwarzer mit neonleuchtender Aufschrift – „Wir wissen, wo ihr wohnt!“

Single, krisenerprobt, sportlich sucht …

An den Seitenwänden – und jetzt wird es schräg – hingen Bilder … von den beiden Lehrern. Herr Drögeraus war Mitglied der freiwilligen Feuerwehr in seinem Wohnort. Man sah ihn auf den Fotos … in Feuerwehruniform … vor dem Löschfahrzeug … mit Schlauch … ohne Schlauch, aber immer ohne Feuer. Gleich daneben ein eingerahmter Artikel des örtlichen Lokalblättchens mit der Schlagzeile „Freiwillige Feuerwehr Adrenalinshausen, lässt nichts anbrennen“. Nun ja das klang wirklich vielversprechend.

Wer das schon merkwürdig fand, dem gaben dann die Fotos von Lehrer Straightforeward den Rest. Man sah ihn beim Eishockey, beim Fallschirmspringen, oder genauer gesagt, wie er einen Fallschirm wieder zusammenfaltete, den Oberkörper frei, beim Klippenspringen und wieder angezogen, beim – Obacht! – Bowling. Ich fragte mich langsam, ob die beiden Pädagogen die Klassenwände mit ihrer Dating App verwechselt hatten.

Blue, blue, blue Jonny bluuhuuu…. (Lena Valaitis)

Lehrer Straightforeward ergriff nun das Wort und erklärte uns, dass sie die Wandfarbe Blau nicht zufällig ausgewählt hatten. „Wir haben die Regeln der Farbpsychologie befolgt“, sagte er lächelnd. Blau sei die Farbe der Harmonie, der Disziplin… und, äh, … der Harmonie. Außerdem, so Straightforeward, symbolisiere das Blau Genauigkeit und Pünktlichkeit und das brauche man in ihrem Unterricht. Mein lieber Herr Gesangsverein, dachte ich anerkennend, die zwei Füchse sind ja mit allen blauen Wassern gewaschen. *augenroll Ich persönlich, fühlte mich von dem vielen Blau fast ertränkt und erwog zum nächsten Elternabend ein Paar Schwimmflossen und einen Schnorchel einzupacken.

Die ersten Proteste

Melissa, die Mama von Viola meldete sich (war ja klar): „Also das ist ja schon sehr schön, aber finden Sie das hier nicht alles ein bisschen zu jungslastig? Ich meine unsere Mädchen sollen sich hier doch auch entfalten können.“ Es ärgerte mich zwar ein wenig aber ich musste ihr Recht geben. Herr Straightforeward wandte wenig überzeugend ein, das Rosa in der Farbpsychologie nicht so gut abschneide.

Vielleicht hätte jemand dem Junglehrer vor dieser Veranstaltung mal erklären sollen, dass die psychologische Auswertung eines Pelikan-Tuschkastens, für das Überleben einer solchen Veranstaltung nicht ausreicht. Und da kamen sie auch schon, die Proteste. „Warum machen Sie dann erst Umfragen in der Klasse, wenn Sie am Ende keinen der Vorschläge aufgreifen“, fragte eine Mutter aus der letzten Reihe. Überall Kopfnicken und Gemurmel „Genau…“, „Ganz meine Meinung …“.

Mein emotionales System interagiert mit der blauen Lagune

Irgendwie wirkte das Blau wohl positiv auf mich ein, denn ich versuchte zu beschwichtigen. „Wie wäre es denn mit einer Meerjungfrau an der Wand da drüben, sozusagen als Quotenfrau“, sagte ich fröhlich und zeigte auf einen freien Platz neben dem Foto, das Straightforeward, oberkörperfrei, beim Klippenspringen zeigte.  Susanne, die Mama von Leo, Ihr wisst schon die mit der Krankenschwesterfrage, lachte laut auf. Mein Mann griff wortlos nach meiner Hand und sein Gesicht lief rot an. Ich fragte mich zu diesem Zeitpunkt, was die Farbpsychologie wohl zur Gesichtsfarbe meines Gatten sagen würde.

Die Sache mit der guten Absicht

Ganz entgegen meiner eigentlichen Absicht, nämlich einen konstruktiven Lösungsansatz zu bieten, entfesselte ich mit meinem Vorschlag einen kleinen Gender-Tumult. Die Wortbeiträge überschlugen sich förmlich: „Natürlich MEERJUNGFRAUEN, so ein Kitsch, … aber diese ätzende Eisenbahn nicht, oder was, … die ist pädagogisch, wegen der Sprüche, … dass ich nicht lache, … wie wäre denn ein Einhorn …“ Und in Reihe fünf eskalierte eine Mutter, die mir quasi vorwarf, ich hätte mit meinem Vorschlag, Alice Schwarzer zusammen mit der gesamten Emanzipationsbewegung unter die Erde gebracht.

Die Stimme der Vernunft – der Elternvertreter

Die Gesichtsfarbe unserer Lehrer hatte inzwischen ein pastelliges Bleu angenommen, was auf mich in keiner Weise beruhigend wirkte, denn mein Mann und ich saßen in Spuckrichtung. Einer unserer Elternvertreter tat kurz vor seiner Abwahl noch einmal seine Pflicht und schlug vor, eine Umfrage per Mail zu starten. So könne geklärt werden, ob und gegebenenfalls wie das Klassenzimmer umgestaltet werden solle. Das klang vernünftig, die Lehrer erklärten dazu ihr Einverständnis, wenn sie selber mit dieser Umfrage keine Arbeit hätten.

Vor dem ersten Sturm

Außerdem, so erklärte Lehrer Drögeraus, stünden noch ein paar Tagesordnungspunkte auf der Liste, die wir besprechen müssten. Zum Beispiel das neue Notensystem, mit dem unsere Kinder beurteilt werden würden. Augenblicklich wurde es still im Klassenraum.  Die Atmosphäre wurde dicker und man konnte die Spannung förmlich anfassen, die in der Luft lag. Zensuren – die Geißel unserer Kinder, der Hort der Ungerechtigkeit, aus Elternsicht verantwortlich dafür, ob unsere Kinder unbeschwert und glücklich in der Schule sind oder nicht. Mit anderen Worten, dass der Rest des Abends friedlich verlaufen würde, war so gut wie ausgeschlossen. Davon erzähle ich euch in der nächsten Folge meiner Schulgeschichten.

Demnächst auf diesem Blog: Elternabend – Das Bewertungssystem